No me lo creo: dos semanas.

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Ich glaubs nicht. Schon zwei Wochen bin ich in Buenos Aires. Gut. Einen Durchhängertag hatte ich, und zwar am Dienstag, den 17. Aber die Ursache weiß ich nicht. Obs daran liegt, dass mein Projekt mehr Arbeit mit sich bringt als vermutet, ob es eine normale Ermüdung nach so vielen Eindrücken ist, obs daran liegt, dass Mails eintrudeln, die Probleme mit dem uralten Familienferienhäusle samt der schwäbischen Erbgemeinschaft ankündigen – etwas irre, sich in Buenos Aires plötzlich den Kopf über Kressbronn am Bodensee zu zerbrechen. Vielleicht liegt es auch nur an dem Hexenschuss, der mir plötzlich zu schaffen macht. Die Kombi mit der immer noch nicht voll funktionstüchtigen linken Hand ist zumindest interessant. Hexenschuss heißt auf Spanisch übrigens nicht „disparo de la bruja“ sondern schnöde „lumbago“.

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Das Projekt über die deutschjüdischen Exilanten macht trotzdem Fortschritte. So saß ich vor ein paar Tagen mit meiner Partnerin Juliana im Stadtteil Belgrano bei Roberto, der ein Brille wie Woody Allen hat und uns hilft weitere Gesprächspartner aufzustöbern. Seine Eltern flohen ebenfalls aus Deutschland hierher, er besuchte dann die Pestalozzi– Schule, die für jüdische Emigranten gegründet wurde. Er gab mir auch einen Schwung Bücher mit, die die vollkommen undurchsichtige Deutschenwelt hier noch verwirrender machen. So scheinen in der Tat schon 1519 allererste Deutsche hierher gekommen zu sein, auf dem Schiff des Portugiesen Magellan – auf dieser Fahrt als sie durch Irrfahrten begriffen, dass die Welt eine Kugel ist. Und einige blieben, andere kamen ein paar Jahre später. Der angestaubte „Deutsche Klub in Buenos Aires“ gibt sich redlich Mühe das Mitwirken dieser und anderer Deutscher, z.B. diverser Jesuitenmissionare am Aufbau Argentiniens und von Buenos Aires zu betonen. Nun denn. Auf alle Fälle gibt es hier diverse deutsche Kommunen, die sich voneinander abschotten oder auch zusammenrotten, evangelische Friedhöfe angelegt haben, jüdische Schulen und andere Kulturinstitutionen gegründet haben und einzelne Gruppen sich dezidiert antisemitisch verhalten haben etc etc. Ein Durcheinander, dass einem ganz schwindelig wird.

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Am Sonntag, den 16. nutzen Juliana, ihr 10-jähriger Sohn Jannis und ich das schöne Wetter und plantschen im Pool herum, der zwischen zwei Hochhäusern mit einer phänomenalen Sicht über das Häusermeer kaum genutzt wird. – Den Argentiniern ist es jetzt schon zu kalt dafür.

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Am Abend dann wieder eines dieser Konzerte, die mir den Atem rauben. Das Orquestra atípica, Teil einer freien, linken Theatergruppe, die sich 1983 gegen die Militärdiktatur zusammenschloss. Sie sahen sich als Nachbarschaftsprojekt, um sich gegenseitig zu helfen. Da sie in den Einwanderervierteln la Boca und Catalinas sur agieren, mischen sich in der Truppe so ziemlich alle Nationalitäten, die in Buenos Aires vertreten sind. Und dieser Mix de los Immigrantes macht dann auch das Feuer dieses Konzertes aus. Unter freiem Himmel, mitten auf der Straße, kostenlos, jeder spendet, was er spenden will – alle tanzen, alle lachen, Alte, Jüngere, Kinder – Lebensfreude pur. (Was für ein Glück, dass ich vor über zwei Jahren trotz Erkältung und Fieber in das großartige Dino Saluzzi-Konzert ging und dort Graciela kennenlernte, die mich immer zu diesen tollen Konzerten mitschleppt.)

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Auf dem Rückweg zu einem Bus interessiert sich im Obstladen ein kleiner Junge für meine Kamera und schießt das erste Foto von mir. Zur Krönung dann noch dieser irre Vollmond in seiner Wolkenschafherde.

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Am nächsten Abend gehe ich in eine mir bisher unbekannte Straße zu einem Konzert. Wie schon öfters stolpere ich auch jetzt über architektonische Sonderheiten, die sich kaum fotografieren lassen, über diverses andere und über Stolpersteine, die für die Opfer der Militärdiktatur angelegt wurden. Dann spricht mich ein Junge auf dem Fahrrad an: „Hola Henriette“ – Jannis, den ich am Tag zuvor in einem ganz anderen Stadtteil kennenlernte. Wahnsinn.

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Das kontemplative Klangschalenkonzert in einem kleinen Garten des Zentrums für Multiple Sklerose-Patienten ist tibetanisch meditativ. Und sehr windig. Der Herbst kommt.

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An meinem Durchhängertag mach ich mich auf zum Friedhof Chacarita, den ich bei meinem letzten Aufenthalt nicht schaffte. Beeindruckend, diese Steinwelt – und viel sympathischer als der berühmte Recoleta-Friedhof, auf dem fast ausschließlich Militärs und Politiker liegen. Hier sind normale Menschen. Und auch Carlos Gardel, der erste, legendäre Tangosänger. Er „wohnt“ nun an der Calle 33, unzählige Plaketten zeigen, wie er geliebt wurde und immer noch wird. So auch von Japanern, die gerade einen Dokumentarfilm über Tango drehen. Ich versuche mich außerhalb des Kamerablickwinkels zu bewegen, aber dann kommen sie direkt auf mich zu. Und so werde ich jetzt vielleicht Teil dieser Dokumentation. Mitten in den Steingräbern plötzlich eine Autokolonne. Eine Beerdigung.

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Ich bummle den Weg zurück durch Villa Crespo, in dem erstaunlich viele Autoruinen stehen. Und Villa Crespo ist nicht irgendein desolater Außenbezirk, sondern die Mitte von Buenos Aires.

Zurück in Palermo, auf der Suche nach einer Goldschmiede, weil mein Kettenverschluss kaputt gegangen ist, werde ich Zeuge eines Überfalls. Innerhalb von Sekunden sind mehrere Polizeiwagen da, dann geht alles gemach und gelassen vor sich. Opfer und Dieb sind ruhig, alle trinken zwischendurch Café, Polizisten machen geduldigen Autofahrern Platz.

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Ein junger Goldschmied repariert meinen Verschluss unentgeltlich. Dann eine Cerveza in einem netten Straßencafé. Und während ich den Wifi-Code ins iphone eingebe der zweite Überfall. Von Tauben. Der Kellner stellt ein Tellerchen mit Erdnüssen vor mich und so schnell kann ich gar nicht gucken, wie plötzlich ca 30 Tauben sich auf den Teller stürzen und innerhalb von Sekunden alles wegmampfen. Ich fliehe an einen anderen Tisch. Der Kellner bringt einen neuen Teller mit Erdnüssen und einem Deckel drüber. Eine weitere Cerveza wird mir auch noch spendiert.

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Am Mittwoch treffe ich nachmittags eine 88-jährige, entzückende Dame, die ich schon von meinem letzten Aufenthalt kenne. Marion schreibt immer noch Artikel für das deutschsprachige Argentinische Tageblatt und argentinische Zeitschriften, ist ungeheuer wach und lebendig. Und ist auch eine jüdische Immigrantin, die 1937 mit ihren Eltern aus Berlin nach Buenos Aires floh. Dass ich das bei meinem letzten Aufenthalt nicht begriffen habe, kann ich gar nicht begreifen. Sie macht jetzt hoffentlich bei dem Projekt mit, auch wenn sie sagt: „Das war alles nicht besonders. Wir hatten es gut. Wir konnten sogar in zwei Containern unseren ganzen Haushalt mitnehmen.“ Sie würde gerne wieder nach Berlin ziehen, das sie 2006 zum letzten mal besuchte. „Weil da alles so toll funktioniert und man sich nicht ständig über etwas ärgern muss. Aber ich habe halt hier mein Leben verbracht.“

Abends Kino mit Mariela, meiner Freundin und Spanischlehrerin. „La grande bellezza“, den ich glatt noch nicht gesehen hatte. Das vernuschelte Italienisch des Hauptdarstellers und die rasend schnellen Untertitel auf spanisch – ähem. Aber ich glaub, das meiste hab ich doch irgendwie mitbekommen. Und den Film fand ich toll.

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