Unter blauem Himmel im Sprühregen

Es hat etwas gedauert, bis ich begriffen habe, woher der Sprühregen bei einem absolut wolkenlosen hellblauen Himmel kommt und es mir unmöglich macht, den Computer auf dem Terrassentisch zu stellen: aus einer Klimaanlage ein paar Stockwerke über mir. Inzwischen ist das Problem gelöst. Im Supermarkt gab es einen Sonnenschirm für ca. 6 Euro und der hilfsbereite Haustechniker hat mit einer Holzstange und Draht eine Halterung gebastelt, dass ich nun geschützt unter freiem Himmel sitzen kann. Und lesen und arbeiten und rauchen und trinken und essen. Unter mir quirlt die calle Acuña de Figueroa, eine für  Buenos Aires ruhige Straße, weil nur ein colectivo – Bus – durchrauscht, über mir nichts als der blaue oder sternenvolle Himmel und manchmal besagter Sprühregen. Und sicher bald auch ein paar Herbststürme, gegen die der sombrilla nichts ausrichten kann. Aber noch ist der Sommer in vollem Gange. Tagsüber zwischen 25 und 30 Grad. Abends, ja, da braucht man ein Jäckchen.

Aussicht

Das ist neu für mich in Buenos Aires. Ich kenne die Stadt und Argentinien nur aus dem Frühling und Hochsommer vor zwei Jahren. Und da ist man schon bei dem Gedanken an eine Jacke ins Schwitzen gekommen. Nur in dem Bus nach Salta (Nordanden), der eine defekte Klimaanlage hatte und auf gefühlte und echte Minusgrade abkühlte, konnte ich während der 24-stündigen Fahrt meine Shawls, Pullis und Jacken einsetzen, die ich als brave Deutsche immer und überall mitschleppe, auch wenn es angeblich unnötig ist. Und in Ushuaia natürlich, also ganz da unten in Patagonien, in Feuerland, 3000 km südlich von Buenos Aires, 1000 km vom Südpol entfernt. (Und immer noch Argentinien.) Wahnsinnsland.

Solche weiten Reisen werde ich bei diesem Aufenthalt nicht machen. Ich möchte in Buenos Aires arbeiten. Deshalb ist die Terrasse auch so wichtig für mich.

Ich möchte natürlich nicht nur arbeiten. Ich möchte auch meine Freunde treffen, in Konzerte gehen, das Leben genießen, mein Spanisch verbessern, etwas Tango tanzen, mich überraschen lassen – und dieses mal vielleicht begreifen, was es ist, das mich hier so fasziniert. Und was mir in Deutschland fehlt.

Flug

Vor dem Abflug hatte ich zwar kaum Zeit, mir über irgendetwas anderes als die Situation in München den Kopf zu zerbrechen, aber manchmal flimmerte durchaus eine kleine Panik hinein: Was, wenn das alles ein ganz großer Irrtum ist? Was, wenn ich diesesmal alles furchtbar finde? – Ich kann natürlich nicht vorhersagen, was ich am Ende der Reise denken werde. Aber die ersten Tage, die waren erst einmal umwerfend.

Es begann mit dem wahnsinnig freundlichen Empfang meiner Freundinnen hier, die mit Blumen und selbstgebackenem Kuchen anrückten, mir mit den Notwendigkeiten wie celular-Chip/Handykarte organisieren, Geld zum inoffiziellen Kurs wechseln, Einwohnerbuskarte aufladen etc. halfen – und ich zum Glück diverse buntgemusterte und federleichte Plastikbeutel als Geschenk dabei hatte, die mit Begeisterung aufgenommen wurden. Denn ja: inzwischen kosten die großen Plastiktüten auch in Buenos Aires etwas.  Die Stadt versucht „umweltbewusst“ zu sein. Sogar für Mülltrennung wird geworben und viele porteños/Bewohner von Buenos Aires trennen auch – aber leider haut es mit der getrennten Müllabholung noch nicht hin. Insofern ist das Trennen vergebene Liebesmüh. Noch!

Und dann erlebte ich bereits an den ersten Abenden nach meiner Ankunft zwei solche Special-Events des argentinischen Flairs zwischen ironischem Humor, lässiger Gelassenheit und  hoher Musikalität, dass sich der lange Flug eigentlich jetzt schon gelohnt hat.

Konex Graciela

Das eine war ein Freiluftkonzert in der großen ausgedienten Fabrikanlage Konex: „Kevin Johansen + the nada“ In Argentinien ein Star, in den USA auch bekannt (er ist halb Argentinier, halb Amerikaner) – in Europa bisher nur durch Spanien und Belgien getourt. Eine echte Entdeckung – nicht einzuordnen zwischen verschiedenen lateinamerikanischen Musikrichtungen und Jazz, Pop und Rock. Und vielem mehr. Und der Schlagzeuglegende: Enrique Roizner, Jahrgang 1939, mit Piazzola und anderen Tangostars aufgetreten – und mit Frank Sinatra. Ehrfurchtsvoll wird er „El Zurdo“ genannt – der Linkshänder. Dreieinhalb Stunden volles Glück.

hand

Zugabe!!!

Am nächsten Abend eine Milonga in einer der ältesten Tangobars der Stadt, gegründet 1893, damals, als nur Männer Tango tanzen durften, die Bar ein Getränkeausschank war, erst später ein Lokal daraus wurde und nun auch Frauen mit Männern tanzen dürfen, und sogar Schwule und Lesben. (Was von anderen Traditionalisten oftmals nicht gern gesehen wird.) Kaum auffindbar in Barracas, einem barrio jenseits der Tourismusviertel.

Bandplus Paar

baila

Mit einer Bandoneon-Truppe bestehend aus fünf älteren Herren, die mir ausführlich den Unterschied zwischen einem Bandoneon und einem Akkorden erklären und wie die Deutschen anders musizieren als die Argentinier, wobei sie nichts gegen die deutsche Spielart haben und absolute Fans von Carlsfeld im Erzgebierge sind, wo das Instrument erfunden wurde und sie als Ehrengäste einmal zum alljährlichen Bandoneonfestival eingeladen wurden. Undundund.

Kinder unscharf

Kind, Tänzer

Spätestens, als ich die ca. 80-jährige Dame um halb ein Uhr nachts beseelt mit einem 35-jährigen Schönling tanzen sehe, habe ich wieder diese Ahnung, was es ist, das mich so fasziniert. Und dann kommt plötzlich auch noch der Mann mit den kleinen Kindern in das „Los Laureles“.  Buenos Aires eben.

Laurelesschild

Katze

 

4 Gedanken zu „Unter blauem Himmel im Sprühregen“

  1. Liebe Henriette,

    klingt großartig aufregend. Gerade ist dieser Doku film bei uns in den Kinos über finnischen und argentinischen Tango – liebenswert. Mein Sohn kommt auf seiner Weltreise im Sommer auch für ein paar Wochen nach Argentinien. Hoffentlich kann er da irgendwo mal jobben… auf ner Farm oder so. Jedenfalls schreib viel, damit wir mit Dir alles erleben können und sei herzlich umarmt von Nicola

    1. Hola Nicola,
      Weltreise, auch nicht schlecht. Im Sommer ist hier freilich Winter. Aber es wird so kalt schon nicht werden. Und ganz sicher wird dein Sohn in Buenos Aires seinen Spaß haben und auch auf der Estancia oder sonst wo. Er soll in die Nordanden fahren: Jujui. Und ich geb mir Mühe, etwas Unterhaltsames zu berichten. Beso, H

  2. Hey Du 🙂
    endlich hab ich drauf geklickt und mich gefreut … toll die Geschichte mit der 80zig jährigen Dame und dem 35jährigen … ja, auch ich krieg eine Ahnung …
    Ich denk an Dich und lass es Dir wohl ergehen Henriette!
    Bis dahin herzlichst
    Petra

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.